Michael Cunningham – By Nightfall
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Es gibt Bücher, die sich persönlich anfühlen. Werke, bei denen man glaubt, den Faden sehen zu können, der den Autor und den Leser verbindet. Durch die Lektüre hat man einen neuen Verbündeten gefunden, jemanden, der nicht unbedingt dieselben Meinungen wie man selbst vertritt, doch der die Welt in denselben Formen sieht. Es ist schwierig, solche Bücher auszulesen. Wie eine kurze Begegnung, eine Verbindung mit jemand Unbekanntem, von dem man weiß, ihn nie wiederzusehen. Man fühlt sich eines Potenzials nach mehr beraubt.
Wie passend, dass „By Nightfall“ diese Gefühle aufnimmt, und selbst verarbeitet. Peter, Kunsthändler in New York, führt zusammen mit seiner Frau Rebecca ein langweiliges Leben in der oberen Mittelschicht, nicht glücklich, aber glücklich genug, bis eines Tages Rebeccas Bruder Mizzy vor der Haustür steht: jung, drogenabhängig, verwöhnt, und ausgestattet mit dem Verlangen, in Manhattan „irgendwas mit Kunst” zu machen. Die Ankunft des jungen Mannes stellt Peters Leben gehörig auf den Kopf und er beginnt sich zu fragen, welchen Wert, welchen Nutzen sein aktuelles Leben für ihn bereithält.
Innerhalb der Narrative selbst zieht Peter den Vergleich zu „Tod in Venedig” von Thomas Mann. Und dieser Vergleich ist nicht weit hergeholt: Sowohl Manns als auch Cunninghams Protagonisten sind intellektuelle Männer, die sich selbst belügen und auf der Suche nach einem Ausweg aus ihrem brutal tristen Leben einen jungen Mann in ihren Fokus rücken. Doch „By Nightfall” geht über die Elemente von „Tod in Venedig” hinaus. Stilistisch ansprechend und künstlerisch ausgestattet ähnelt es Manns Novelle, vermittelt aber ein umfangreicheres Bild von Peters Charakter, das Elemente seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Peter ist kein guter oder sympathischer Charakter. Aber, wie er selbst im Roman erkennt: „…we don’t care about Emma Bovary or Anna Karenina or Raskolnikov because they’re good. We care about them because they’re not admirable, because they’re us, and because great writers have forgiven them for it”.
Gelesen wird das Ganze in der englischen Hörbuchfassung von Hugh Dancy, einem britischen Schauspieler, der überzeugt genug von seinem gespielten amerikanischen Akzent ist, um das Buch passend vorzutragen. Für deutsche Zuhörer besonders belustigend ist auch sein Versuch, den deutschen Akzent einer Nebenfigur zu imitieren. Dancy gibt, wie es sein Handwerk ist, jedem der Charaktere eine eigene Intonation. Die leichten Veränderungen seiner Stimme und seiner Klangfarbe geben den Figuren noch mehr Charakter und helfen dabei, sie auch ohne Begleitsätze voneinander zu unterscheiden.
„By Nightfall” ist keine einfache Lektüre. Es erzählt die Geschichte eines normalen, reichen Mannes, dessen Probleme im Vergleich zu anderen Büchern viel zu weltlich und gleichzeitig für die meisten Leser viel zu abgehoben erscheinen. Man muss Charakterstudien mögen, muss sich einlassen können auf egoistische Charaktere mit “First World Problems”. Vielleicht braucht man auch diese ganz besondere Bindung zum Autoren, das “Auf einer Stufe stehen”, dass es einem dann ermöglicht, eine Welt zu sehen, die man nicht häufig zu Gesicht bekommt, und dessen Eintauchen, dessen Verstehen, das Weltbild erweitert.
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