Anne Freytag – Nicht weg und nicht da
“Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass Zeit nicht wiederkommt. Dass eine Minute nach der anderen unerbittlich aus unserem Leben stirbt und dass wir jeden Moment aufs Neue entscheiden müssen, ob wir sie verschwenden oder nutzen.”
Freytag-Freitag ❤️ Es ist nur eine flüchtige Begegnung im Hausflur und doch markiert diese den Beginn von Luises und Jacobs gemeinsamer Geschichte. Seit dem Freitod ihres älteren Bruders Kristopher hat Luise sowohl optisch als auch emotional eine Mauer errichtet. Jacob ist sofort von der geheimnisvollen Luise fasziniert. Er erkennt ihr gebrochenes Inneres und ganz langsam fasst auch Luise Vertrauen zum introvertierten Mädchenschwarm. An ihrem sechzehnten Geburtstag erhält Luise eine E-Mail – von Kristopher. Dieser folgen noch weitere, mit denen er sich verabschieden und seine Schwester in den Trauerphasen unterstützen möchte. In dieser Zeit ist Jacob eine wichtige Stütze für Luise und die beiden nähern sich immer weiter an. Doch schon bald muss Luise feststellen, dass auch Jacob eine schwere Last mit sich trägt, die ihn über die Jahre so verschlossen hat werden lassen.
Anne Freytag erzählt in „Nicht weg und nicht da“ – erstmals 2018 bei Heyne fliegt, dem Jugendbuch-Imprint vom Heyne Verlag erschienen – nicht nur von einer Liebesgeschichte zweier stark verletzter Seelen, die sich gegenseitig Halt geben, sondern von noch so viel mehr. Ich finde es beachtlich, mit wie viel Feingefühl sie sich den gesellschaftlich gemiedenen Themen Freitod und psychische Erkrankungen widmet.
„Ich war noch klein, als bei Kristopher die Bipolare Störung diagnostiziert wurde, aber ich erinnere mich daran, wie dunkel er schon damals sein konnte. Mein Bruder war die finsterste Nacht und das hellste Licht. Ein Vakuum und drei Tage später wieder euphorisch und voller Tatendrang. Früher dachte ich, alle Menschen wären so. Aber nur er war so. So laut und so leise.“
Dabei geht sie sowohl auf die Sichtweise der Angehörigen bzw. Hinterbliebenen als auch auf die der betroffenen Personen ein – ein gewagter, aber sehr wichtiger Schritt.
“Und zum ersten Mal ist es kein halbes Gefühl. Nicht diese abartige Mischung, die ich von früher kenne. Du weißt, welche ich meine… Ich war die meiste Zeit meines Lebens nicht weg und nicht da. Jetzt bin ich weg. Und das ist gut so, Lise.”
Auch beschreibt Freytag die verschiedenen Arten, mit Trauer umzugehen, sei es ein Ventil zu finden oder alles und jeden von sich abzuschirmen. Luise ist zu Beginn der Geschichte eine gebrochene Person, die sich von niemandem verstanden fühlt – auch nicht von ihrer besten Freundin und schon gar nicht von ihrem Therapeuten. Sie hat die einzige Person verloren hat, die sie wirklich verstanden hat: ihren großen Bruder Kristopher, die wichtigste Person in ihrem Leben. Diese fühlt sich einsam, nicht zuletzt, weil ihre Mutter sich in Arbeit stürzt und ihr Vater sich lieber seiner neuen Beziehung widmet. Viele Gedanken belasten das junge Mädchen, das immer wieder stumme Hilferufe aussendet. Jacob nimmt genau diese wahr und scheint in ihr Inneres blicken zu können. Dabei gibt er ihr genau das, was sie so dringend benötigt: Er behandelt sie ganz normal, ohne Mitleid.
Als Leser merkt man schnell, dass auch Jacob es nicht so leicht im Leben hatte. Zwar erscheint sein Leben auf den ersten Blick in Ordnung, aber durch viele kleine Details wird dieser Eindruck nach und nach aufgehoben. Jacob hat einiges in seinem noch jungen Leben erlebt und irgendwann aufgegeben zu vertrauen. Lediglich sein älterer Bruder Arthur, mit dem er zusammenlebt, weiß, mit dem verschlossenen und kalt wirkenden Jacob umzugehen. Doch so wie Jacob Luises Leben beeinflusst, ist es auch umgekehrt. Langsam scheint Jacob sein Herz wieder zu öffnen und einer anderen Person vertrauen zu können.
Neben Luise und Jacob spricht sie dabei auch den einzelnen Nebencharakteren Aufmerksamkeit zu und macht sie so zu wichtigen Bestandteilen der Geschichte. Zudem baut sie viele weitere kleine Elemente ein, die Freude beim Lesen bereiten: Kristophers Vorliebe für besondere Wörter und für die Widersprüche der deutschen Sprache sorgen sowohl für einige Lacher als auch für sehr berührende Momente. Jacobs Kochkünste und Arthurs Eigenschaft, stets Essen zu schnorren, auch wenn es nicht für ihn zubereitet wurde, sind eine sehr witzige Kombination und nur ein kleines Beispiel für die besondere Dynamik der Brüder. Luises und Jacobs gemeinsame Liebe zur Musik bereitet den Weg zu einer Spotify-Playlist, die nicht nur einen wichtigen Part in der Geschichte einnimmt, sondern auch in der Realität verfügbar ist und das Leseerlebnis noch schöner gestaltet. Auch Freytags Spiel mit Symbolik überzeugt auf ganzer Linie, seien es der Fährmann und die Zwischenwelt in Kristophers E-Mails oder der Hirsch und die Sternzeichen in Luises Träumen.
Anne Freytag hat mit „Nicht weg und nicht da“ einen berührenden Jugendroman geschaffen, der sich – schonungslos ehrlich – wichtigen und realitätsnahen Themen widmet. Mit vielen liebevoll gestalteten Details und einer Leichtigkeit im Schreibstil, die die Schwere des Themas aufwiegt, zieht sie den Leser dabei in den Bann und bereitet Momente zum Schmunzeln und Lachen, aber auch zum Verzweifeln und Weinen. Es ist eine Achterbahn der Gefühle, eine wunderschöne aber auch herzzerreißende Geschichte.
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