Leigh Bardugo – Das Lied der Krähen
Kaz lehnte sich zurück. „Was ist der einfachste Weg, einem Mann die Brieftasche zu rauben?“
„Messer durch die Kehle?“, fragte Inej.
„Pistole im Rücken?“, mutmaßte Jesper.
„Gift im Becher?“, schlug Nina vor.
„Ihr seid alle abscheulich“, sagte Matthias.
Kaz verdrehte die Augen. „Der einfachste Weg, einem Mann die Brieftasche zu rauben, ist, ihm zu sagen, dass man seine Uhr klauen wird. Du ziehst seine Aufmerksamkeit auf dich und lenkst sie dann dahin, wo du sie haben willst. (…)“
Ein Dieb, eine Spionin, ein Scharfschütze, ein Ausreißer mit einem Händchen für Sprengstoff, eine Magierin und ein Hexenjäger: Auf den ersten Blick scheinen die sechs „Krähen“ nicht viel gemeinsam zu haben – außer vielleicht den Hang zu einem außergewöhnlichen Lebensstil. Als sich ihnen jedoch die Gelegenheit bietet, eine Menge Geld zu verdienen, zögern sie nicht lange und tun sich zusammen. Sehr unterschiedliche Motive treiben die sechs „Krähen“ an, einen Wissenschaftler aus einem der bestgesichertsten Gefängnisse ihrer Welt zu befreien. Nicht nur Geheimnisse, sondern auch Misstrauen stehen zwischen den Gefährten wider Willen. Und Kaz, Inej, Jesper, Wylan, Nina und Matthias beginnen langsam zu erahnen, dass noch weitaus mehr hinter ihrem abenteuerlichen Auftrag steckt.
„Das Lied der Krähen“, im englischen Original „Six Of Crows“, ist der erste Teil der Krähen-Dilogie von Leigh Bardugo. Die deutsche Übersetzung erschien erstmals 2017 im Knaur Verlag.
Der schwarze Buchschnitt und die in den Buchumschlag eingeprägten Buchstaben machen bereits die Optik des Buches zu einem Highlight. Das Cover verspricht eine eher düstere Geschichte und genau so eine bekommt der Leser. Leigh Bardugo entführt uns – wie bereits in der Grischa-Trilogie – erneut in ihr einzigartiges und komplexes Grishaverse, genauer gesagt nach Ketterdam, einer pulsierenden Hafenstadt, die fest in der Hand diverser Banden ist.
Es wird dabei eine karge Welt voller Verbrechen, Armut und tragischer Schicksale aufgezeigt. Kaz Brekker – auch Dirtyhands genannt – und seine Gefährten wurden hart vom Schicksal getroffen und haben alle ihr ganz eigenes Päckchen zu tragen. Leigh Bardugo lässt diese abgehärteten Charaktere äußerst authentisch wirken. Hierzu trägt auch besonders die interessante Erzählperspektive des Romans bei: Jedes Kapitel wird vom personalen Erzähler aus der Sicht einer der Charaktere beschrieben. Diese sind realistisch und detailreich ausgearbeitet. Jeder einzelne Charakter hat eine komplexe und interessante Hintergrundgeschichte, die nach und nach enthüllt wird, wobei der Leser etwas über dessen Präferenzen, Abneigungen, Vorurteile und Ängste lernt. Jeder hat eine andere Ethnie, trägt eigene Wunden und Makel. Leigh Bardugo zeigt dabei, dass sie das Thema Diversität gut zu nutzen weiß und erweitert dabei auch den Blick auf andere Völker im Grishaverse. Besonders gefallen hat mir zudem der fantastische Humor und die Chemie der Charaktere untereinander. Freundschaften und auch Liebesbeziehungen, die nicht übertrieben werden und im Hintergrund stattfinden, werden angemessen thematisiert und dargestellt. Es gibt dabei keine Selbstzweifel, ellenlange innere Monologe oder Love Triangles. Aber nicht nur die Charaktere, sondern auch die Handlung weiß zu überzeugen. Die Geschichte bietet Spannung pur und jede Menge Twists, wobei viele Ereignisse nicht vorhersehbar sind. Mastermind Kaz Brekker ist nicht nur seinen Gegnern, sondern auch dem Leser immer mindestens einen Schritt voraus.
Die Handlung in „Das Lied der Krähen“ spielt nach den Ereignissen der Grischa-Trilogie. Diese muss man nicht zwangsläufig vorher gelesen haben, es erleichtert jedoch den Einstieg in das komplexe Grischaverse und macht einige Ereignisse und auch Anspielungen auf die Trilogie verständlicher.
Leigh Bardugo ist als Autorin gewachsen und hat mit „Das Lied der Krähen“ einen erwachseneren Fantasy-Roman ohne großartige Jugendbuch-Klischees geschaffen. Dabei baut sie ihr Grischaverse aus und zeigt dem Leser neben anderen Völkern auch neue Sichtweisen auf. Der Cliffhanger am Ende lässt den Leser gespannt zurück und sofort nach „Das Gold der Krähen“ greifen.
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